Die vergessenen und verdrängten Opfer
des Nationalsozialismus:

Einheimische „Euthanasie“-Opfer

 

Die neue Gedenktafel erinnert an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in und aus Billerbeck. Erstmals wird jener drei Billerbecker Bürger gedacht, die in den Jahren 1941 und 1943 Opfer der sogenannten „Euthanasie”-Aktionen geworden sind.

Unter der irreführenden Tarnbezeichnung „Euthanasie” (medizinischer Begriff für die Erleichterung des Sterbens durch Narkotika) führte das nationalsozialistische Regime ein Programm zur systematischen Tötung von Geisteskranken durch. Das war keine wie auch immer gerechtfertigte individuelle Sterbehilfe für unheilbar Kranke, sondern ein ideologisch hochaufgeladenes, sozialdarwinistisch-„rassenhygien isches” Politikfeld und führte zur organisierten und massenhaften Ermordung sogenannter „Ballastexistenzen”, deren Pflege der „Volksgemeinschaft” nicht zugemutet werden sollte.

Sie lebten als psychisch Kranke in westfälischen Heil- und Pflegeanstalten, bevor sie mit sogenannten „Transporten” in hessische Anstalten verlegt wurden. Zwei von ihnen wurden dort schließlich getötet. Bislang wird der verschleppten und ermordeten „Euthanasie”-Opfer, wenn überhaupt, in den Herkunftsanstalten und in den „Tötungsanstalten” gedacht. Mit der Billerbecker Gedenktafel findet erstmalig ein öffentliches Gedenken an getötete Patienten in ihrem Heimatort statt.

Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens”, wie es im unbarmherzigen und mitleidlosen Jargon der Nazis hieß, begann mit der „Aktion T4”, der von Januar 1940 bis August 1941 über 70.000 erwachsene Geisteskranke zum Opfer fielen. Aus westfälischen Heilanstalten wurden insgesamt 2.890 Männer und Frauen in Tötungsanstalten verlegt, von denen 1.334 durch Gas ermordet wurden.

Aufgrund kirchlicher Proteste, u.a. durch den Münsteraner Bischof von Galen, wurde die Mordaktion im August 1941 gestoppt, aber unter strengerer Geheimhaltung als zuvor von September 1941 bis Mitte 1944 fortgesetzt.


Clemens August Graf von Galen, der “Löwe von Münster”, 1934 in Billerbeck bei der 1125-Jahr-Feier zu Ehren des Hl. Ludgerus

In der zweiten Phase wurden noch einmal 20.000 bis 30.000 Patienten getötet. Diese „Euthanasie”-Maßnahmen bestanden aus nichtautorisierten Tötungen und absichtlich herbeigeführten Verschärfungen der Lebensbedingungen, in erster Linie durch medizinische Vernachlässigung und fürsorgerische Verwahrlosung sowie Kürzung der Ernährung mit der Folge von Auszehrung, Krankheit und Tod.

Die noch lebenden westfälischen Patienten aus der ersten Phase der „Transporte” und die 2.846 Patienten,

Das Westfälische Institut für Regionalgeschichte (Münster) hat in einem langjährigen Forschungsprojekt die Geschichte der Psychiatrie im Provinzialverband Westfalen im Dritten Reich erarbeitet. Hiermit wurde eine wichtige Voraussetzung für die Herausbildung einer Gedenkkultur geleistet, die sich der Verschleppung und Ermordung der „Euthanasie”-Opfer widmet und auf das Schicksal der Zwangssterilisierten hinweist (www.lwl.org/LWL/Kultur/WIR ).

Der Verein „Spuren Finden. Gedenken und Erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus im Münsterland e.V.” (Münster) hat eine Datenbank ins Internet gestellt, die Recherchen zu den knapp 1.500 „Euthanasie“-Opfern des Regierungsbezirks Münster ermöglicht und zum Abfassen von Gedenkblättern als Erinnerung an die Einzelschicksale auffordert (www.muenster.org/spurenfinden ).

die im Zuge der neuen Verlegungswelle 1943 verschleppt wurden, fielen zum größten Teil diesen Maßnahmen zum Opfer. Von den fast 5.800 Patienten, die aus der Provinz Westfalen verlegt wurden, lebten bei Kriegsende gerade noch 15%!

Das Schicksal der Billerbecker „Euthanasie”-Opfer war bislang unbekannt. Aus datenschutzrechtlichen Gründen dürfen keine Namen genannt werden, weder in diesem Beitrag noch auf der Gedenktafel.

Ein Billerbecker, Jahrgang 1891, lebte seit 1935 in der Provinzialheilanstalt in Marsberg. Er wurde im Juni 1941 in die Heil- und Pflegeanstalt Weilmünster (Hessen) und im Juli 1941 in die Landesheilanstalt in Hadamar (Hessen) transportiert. Im August 1941 wurde dieser Mann durch Gas ermordet.

Ein anderer Billerbecker, Jahrgang 1900, war in den dreißiger Jahren Patient in der Provinzialheilanstalt Marienthal in Münster. Er wurde im Juni 1943 in die Heil- und Pflegeanstalt Eichberg (Hessen) verlegt, wo er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den „Euthanasie”-Maßnahmen zum Opfer fiel.

Ein dritter Billerbecker schließlich, Jahrgang 1915, wurde ebenfalls im Juni 1943 von der Münsteraner Provinzialheilanstalt nach Eichberg verschleppt; er überlebte die NS-Zeit in der Anstalt Herborn, sein späteres Schicksal ist bislang ungeklärt.

weiter: Die vergessenen und verdrängten Opfer des Nationalsozialismus:
Ausländische Zwangsarbeiter

 

 

Teil 1
Die Übergabe der Gedenktafel - Einleitung

 

Teil 2
Der Kontext:
Das Projekt der Umge- staltung des „Krieger- ehrenmals“

 

Teil 3:
Die übermächtige Tradition des Kriegstoten-Gedenkens: Billerbecker Gedenkorte

 

Teil 4:
Die übermächtige Tradition des Kriegstoten-Gedenkens: Das Problem des “ehrenhaften” Gefallenen-Gedenkens nach 1945

 

Teil 5:
Die übermächtige Tradition des Kriegstoten-Gedenkens: Das Problem des bundesrepublikanischen Opfer-Gedenkens

 

Teil 6:
Die vergessenen und verdrängten Opfer des Nationalsozialismus: Einheimische „Euthanasie“-Opfer

 

Teil 7:
Die vergessenen und verdrängten Opfer des Nationalsozialismus: Ausländische Zwangsarbeiter

 

Teil 8:
Nachholendes Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus: Die verfolgten und vertriebenen, verschleppten und ermordeten Juden

 

Teil 9:
Nachholendes Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus:
Die Billerbecker Shoah-Opfer auf der neuen Gedenktafel 

 

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