Die übermächtige Tradition
des Kriegstoten-Gedenkens:

Das Problem des “ehrenhaften”
Gefallenen-Gedenkens nach 1945

 


Kriegsgräber auf dem alten Friedhof

In der Weimarer Republik beschwor insbesondere der Billerbecker „Kriegerverein“ in rückwärtsgewandter, nationalistisch-militaristischer Verklärung das (verlorengegangene) Kaiserreich und „ehrte“ den (gefallenen) „Krieger“ als „Helden“. In der NS-Zeit rückten – unter Beibehaltung der nationalistischen und militaristischen Töne und unter Fortfall der christlichen Elemente – die lokalen NSDAP-Gliederungen, parteinahen Formationen und gleichgeschalteten Organisationen die nationalsozialistische Ideologie in den Vordergrund.

Die Rhetorik war gegenwartsbezogen oder gar auf die Zukunft gerichtet; die „Volksgemeinschaft“ hatte bereit zu „Opfern“ und zum „Kampf“ zu sein. Der „Heldengedenktag“ geriet somit zur Demonstration des politischen „Willens“ und des „Triumphs“.

Nach 1945 stellte sich die Lage völlig anders dar. Nicht nur ein weiterer von Deutschland verursachter und verlorener Krieg war zu Ende. Der Zweite Weltkrieg hatte als ungehemmter Angriffs- und Aggressionskrieg ein bislang ungekanntes Ausmaß an Vernichtung von Menschen und Völkern sowie an Zerstörung von ideellen und materiellen Werten in Deutschland und in Europa hinterlassen.

Der Volkstrauertag geht auf die Initiative des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs zurück. Der Gedenktag wurde seit 1925 staatlicherseits unterstützt und auf den 5. Sonntag vor Ostern festgelegt. Die Nationalsozialisten machten 1934 den Volkstrauertag zum Staatsfeiertag und benannten ihn in „Heldengedenktag“ um, der neben den Kriegstoten auch die „Gefallenen der nationalsozialistischen Bewegung“ in Erinnerung rufen sollte. Wehrmacht und NSDAP waren die Veranstalter des Tages. Ab 1948 wird der Volkstrauertag wieder in Trägerschaft des Volksbunds begangen, nun im November am zweiten Sonntag vor dem ersten Advent. Der Tag ist kein Staatsfeiertag, steht aber auf Landesebene unter dem Schutz der Feiertagsgesetzgebung.

Spätestens in der unmittelbaren Nachkriegszeit war erkennbar, dass dieser Krieg von Kriegsverbrechen (gemäß den Haager Konventionen) und Menschenrechtsverletzungen (gemäß den Genfer Konventionen) gekennzeichnet war. Somit war die Rolle der Wehrmacht und ihrer Verantwortlichen insgesamt, aber gerade auch die bestimmter Einheiten und in nicht seltenen Fällen die des einzelnen Soldaten in Frage gestellt, ganz zu schweigen von den paramilitärischen Verbänden wie zum Beispiel die SS.

Es sollte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr möglich sein, vorbehaltlos an eine konventionelle Tradition des „ehrenhaften“ Totengedenkens als Gefallenengedenken anzuknüpfen.

Aber auch aus einem anderen Grund heraus musste nach 1945 ein notwendiger Bruch in der deutschen Gedenkgeschichte eintreten. Die NS-Zeit hinterließ ja nicht nur zivile und militärische Tote in der Folge von Kriegshandlungen, sondern auch Opfer der nationalsozialistischen Unrechts- und Gewaltherrschaft.

Hierzu zählten die Opfer von staatlich organisiertem Terror und staatlich durchgeführten Verbrechen an Ausländern wie Deutschen, Einzelpersonen wie Personengruppen, in Deutschland wie in ganz Europa, begangen in konzertierter Aktion von allen Sparten der Verwaltungen auf allen Ebenen, von Justiz, Polizei und Militär. Zu nennen sind die verfolgten und ermordeten Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, psychisch Kranken und geistig Behinderten, Zeugen Jehovas, Zwangsarbeiter, „Gemeinschaftsfremden”, nicht zuletzt die Menschen aus dem politischen und religiösen Widerstand.

Ein nahtloses und ausschließliches Aufgreifen der Tradition des sogenannten „ehrenhaften“ Gefallenengedenkens verbot sich, denn von nun an zählten die Kriegstoten wie die Gewaltopfer zu der katastrophalen Bilanz der Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs.

Der deutschen Bevölkerung stellte sich somit nach 1945 die zentrale Frage, wie man der unterschiedlichen Toten gedenkend gerecht werden könne.


Gedenkstätte am Kloster Gerleve

Zum einen hatte man sich mit dem Problem auseinanderzusetzen, wie das traditionelle Gefallenengedenken zu gestalten war angesichts der, undifferenziert und plakativ gesprochen, Frage nach den Tätern und den Taten. Gerade im Gefallenengedenken vor Ort blieb diese Frage weitgehend unberücksichtigt und somit unbeantwortet.

In den fünfziger und sechziger Jahren betrieben lokale soldatische Traditionsvereine und der Volksbund flächendeckend die Errichtung von Denkmälern für die gefallenen Soldaten der Wehrmacht bzw. die Ergänzung und Erweiterung vorhandener Denkmäler des Ersten Weltkriegs um die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs.

In Billerbeck folgte man, wie schon angedeutet, beiden Varianten: In der Gedenkpraxis wurde das zentral gelegene „Ehrenmal“ des Ersten zum „Ehrenmal“ des Zweiten Weltkriegs erweitert.

Hinzu kam die „Ehrenanlage” in der Randlage des alten Friedhofs, die allgemein von „Unseren Toten” sprach und damit in erster Linie die einheimischen gefallenen Soldaten und zivilen Bombenopfer meinte. Zugleich nahm sie wenige Kriegsgräber für ausländische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter sowie Wehrmachtsangehörige, die nicht aus Billerbeck stammten, auf.

Die Pietät gebot es, diese Gräber zu pflegen, wie auch jene der alliierten Soldaten, die bei den Bombenangriffen auf das Münsterland im Billerbecker Raum starben und auf dem alten Friedhof beerdigt wurden, bevor sie dann nach 1945 auf Soldatenfriedhöfe umgebettet wurden.

Im Bereich der Benediktiner-Abtei Gerleve befinden sich große Gräberfelder für die im Kriegslazarett verstorbenen Wehrmachtsangehörigen sowie für die zahlreichen verstorbenen Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion.

Erst der umstrittene Besuch des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan und Bundeskanzlers Helmut Kohl auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg im Sommer 1985, auf dem neben Wehrmachts- auch SS-Angehörige beerdigt waren, brachte das Thema Täterschaft – Verantwortung – Gefallenengedenken in den Fokus medialer Aufmerksamkeit und damit auch in das historische Bewusstsein der Bevölkerung.

Inzwischen hat sich die Täterforschung zu einem Schwerpunkt der historisch-politischen Aufklärungsarbeit entwickelt und hinterfragt somit auch die Formen und Inhalte, Traditionen und Rituale des Gedenkens an die Kriegstoten des 20. Jahrhunderts.

weiter: Die übermächtige Tradition des Kriegstoten-Gedenkens:
Das Problem des bundesrepublikanischen Opfer-Gedenkens

 

 

Teil 1
Die Ăśbergabe der Gedenktafel - Einleitung

 

Teil 2
Der Kontext:
Das Projekt der Umge- staltung des „Krieger- ehrenmals“

 

Teil 3:
Die übermächtige Tradition des Kriegstoten-Gedenkens: Billerbecker Gedenkorte

 

Teil 4:
Die übermächtige Tradition des Kriegstoten-Gedenkens: Das Problem des “ehrenhaften” Gefallenen-Gedenkens nach 1945

 

Teil 5:
Die übermächtige Tradition des Kriegstoten-Gedenkens: Das Problem des bundesrepublikanischen Opfer-Gedenkens

 

Teil 6:
Die vergessenen und verdrängten Opfer des Nationalsozialismus: Einheimische „Euthanasie“-Opfer

 

Teil 7:
Die vergessenen und verdrängten Opfer des Nationalsozialismus: Ausländische Zwangsarbeiter

 

Teil 8:
Nachholendes Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus: Die verfolgten und vertriebenen, verschleppten und ermordeten Juden

 

Teil 9:
Nachholendes Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus:
Die Billerbecker Shoah-Opfer auf der neuen Gedenktafel 

 

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