“Spuren finden”

Zum Gedenken an die jüdischen Kinder
Rolf und Eva Eichenwald aus Billerbeck

Beitrag einer Schülergruppe* der Städtische Realschule Billerbeck
zum Volkstrauertag 2002

 


“Zwei Menschen, zwei Welten vernichtet.”
Die Schüler bei ihrem Vortrag

Schüler 1: Im babylonischen Talmud heißt es an einer Stelle:

"Wer einen Menschen vernichtet, der vernichtet eine ganze Welt."

Wir wissen nicht genau, wann diese beiden Kinder, die Sie hier auf den Bildern sehen, ermordet wurden. Es sind Rolf-Dieter und Eva Eichenwald aus Billerbeck. Daneben ihre Mutter Ruth, geborene Albersheim. Sie finden die Namen auch auf der neuen Gedenktafel.

Sicher ist, dass Rolf und Eva mit ihrer Mutter und Großmutter ins Ghetto Riga deportiert wurden. Dort sind sie möglicherweise vor den Augen ihrer Mutter erschlagen worden.

Rolf und Eva waren damals im Winter 1941/42 fünf und vier Jahre alt. Eigentlich hätten sie eine Zukunft vor sich gehabt, eine ganze Welt, die jeder von ihnen hätte erobern und gestalten können. Doch sie wurden vernichtet - und mit ihnen diese möglichen Welten, die das Leben so hätten bereichern können.

Warum?

Was waren das für Menschen, die so gewissenlos andere Menschen umbrachten, zahllose Welten vernichteten?

 Schüler 2:     Stellvertretend für die jüdischen Bürger Billerbecks, die zu Opfern des Holocaust wurden, möchten wir uns eher fragend der kurzen Lebensgeschichte dieser beiden Kinder annähern. Wir sind dankbar, dass sich einige Billerbecker Bürgerinnen und Bürger, die in den gleichen Jahren wie Rolf und Eva, also 1936 und 1937 geboren wurden, bereiterklärt haben, mit uns über ihren Lebensverlauf zu sprechen. Nachdem wir nur wenige Einzelheiten und Fakten über das Leben der beiden Kinder kennen, hoffen wir aus der Gegenüberstellung ihrer Geschichten mit denen der gleichzeitig geborenen Billerbecker, ihre Situation etwas deutlicher sehen zu lernen.

Schüler  3:     Am 20. Oktober 1937 freuten sich in der Münsterstraße die Eltern über die Geburt ihres Sohnes Wolfgang. Welch eine Welt eröffnete sich ihm? Der Betrieb der Eltern als Herausforderung. Bei allen Risiken und Unsicherheiten der Unternehmerexistenz in Kriegs- und Nachkriegszeiten - im Rückblick weiß man, eine interessante, verantwortungsvolle, gesicherte Zukunft lag vor ihm.

Schüler 1:     Als Eva Eichenwald am 15. Dezember 1937, 16 Monate nach ihrem Bruder Rolf-Dieter, im Ludgerikrankenhaus geboren wurde, hatte ihr Großvater im Textilhaus Albersheim in der Lange Straße 13 schon große finanzielle Sorgen. Deutsche kauften nicht mehr bei Juden!
Eine Chance, das Geschäft der Eltern und Großeltern zum Erfolg zu führen, hatten Rolf und Eva nie.

Schüler 3:     Mit drei Jahren ging Brigitte in den Johannikindergarten, der "Nazikindergarten", wie sie sagt. Und Erich durfte in den Kindergarten in der Mühlenstraße. Sie lernten viele gleichaltrige Kinder kennen, konnten unbeschwert spielen, Freunde finden.


Auf einen von Bernhard Scholz nach Foto-Vorlage gemalten Bild waren Rolf und Eva Eichenwald - ebenso wie ihre Mutter Ruth auf einem weiteren Bild - bei der Gedenkfeier präsent.

Schüler 1:       Als Rolf und Eva drei Jahre alt waren, lebten sie schon nicht mehr in Billerbeck. Das Geschäft war verkauft. Mit den Großeltern und Eltern lebten sie nun in einem Judenhaus in der Dreikönigenstraße 16 in Krefeld von den letzten Ersparnissen. Einen Kindergarten besuchten sie allerdings dort auch nicht: Für Juden verboten.

Schüler  3:     Am 6. Dezember 1941 feierten die Billerbecker Kinder Nikolaus. Man begann die Weihnachtsgeschenke und den Weihnachtsschmuck zu basteln. Die meisten unserer Befragten erinnern sich noch genau an die schönen Winterabende, an die Adventsstimmung, die warme Geborgenheit trotz des Krieges.

Schüler 1:       In der Dreikönigenstraße 16 in Krefeld bereitete sich statt der gemütlichen Winterstimmung kalte Angst aus. Die Deportation stand bevor. Am 13. Dezember 1941 kurz vor Mitternacht kam der Zug mit den Deportierten in Skirotawa an. Endstation einige Kilometer vor Riga. 61 Stunden Fahrt lagen hinter ihnen. Bei minus 12° C mussten alle noch eine Nacht im unbeheizten Zug verbringen, ehe es zu Fuß über mehrere Kilometer ins Ghetto ging. Der 15. Dezember 1941, ihr zweiter Tag im Ghetto war Evas Geburtstag: sie wurde vier Jahre alt.

Schüler 3:     Weihnachten 1941 in Billerbeck: ganz traditionell hätten sie gefeiert, so sagten uns die meisten der mit Rolf und Eva gleichzeitig Geborenen. Der Christbaum, die Lieder, der Kirchgang, die Geschenke, die Familie versammelte sich. So als hätte sich nichts geändert in Deutschland. Auf einigen Christbäumen in Billerbeck hatte sich allerdings der Schmuck geändert: Hakenkreuzsymbole, Soldaten und kleine Panzer hingen am Baum. Andere zeigten ihre Distanz, in dem sie bewusst auf diesen Schmuck verzichteten. Die Sorgen vieler Billerbecker galten ihren Söhnen an den Fronten des Weltkrieges.


Rolf und Eva Eichenwald in einer Fotografie von März 1940

Schüler 1:     Und Rolf und Eva? Sie waren in dieser Nacht schon vergessen. Sie hatten ja nie Spielkameraden in Billerbeck gehabt. Mit Juden spielen? Verboten!
Hätten sie zu Hause Chanukka gefeiert? Ihre Familie hatte eine eher liberale Einstellung zur Religion.
Jetzt sind sie im Ghetto. Während in Billerbeck die Tannenbäume leuchten, die Christmette mit "Stille Nacht, heilige Nacht" endet und Kinderaugen vor Freude und Rührung leuchten, vermögen wir uns kaum vorzustellen, was Rolf und Eva in dieser Nacht erlebten.

Schüler 2:     Ruth Eichenwald war eine hingebungsvolle Mutter gewesen, wie uns ihre Cousine Anna Uhlmann bestätigte. Sie wird alles getan haben, um es den Kindern so erträglich wie möglich zu machen. Aber sie hatte keine Chance. Die grausame Ermordung konnte sie nicht verhindern. Wir wissen nicht genau, wann und wie die Kinder starben. Eine Zeugenaussage, die sich aber nicht mehr weiter überprüfen lässt, sagt, dass Rolf und Eva vor den Augen ihrer Mutter erschlagen wurden, als sie nicht zulassen wollte, dass man ihr die Kinder wegnahm. Auch die Mutter Ruth und Großmutter Selma wurden in Riga ermordet. Der Vater Otto soll in Auschwitz vergast worden sein.

Wir wissen nicht, wann die Kinder sterben mussten. Vielleicht waren sie an Weihnachten bereits tot.

Schüler 3:     Zwei Menschen, zwei Welten vernichtet - unbemerkt von ihren Altersgenossen in Billerbeck und deren Eltern. Sie sind nie mit ihnen im Kindergarten gewesen, nie waren sie ihre Klassenkameraden, mit niemanden von ihnen gingen sie zum ersten Tanz, zu keiner Hochzeit konnten sie eingeladen werden, auf allen Fotos der späteren Klassen- und Jahrgangstreffen von Franz, Heinrich, Hermann, Hedwig, Anton, Gertrud und all den anderen, die mit ihnen geboren wurden, fehlen sie.

Es ist, als habe es sie niemals gegeben.

Rolf und Eva Eichenwald, Kinder aus Billerbeck, die heute mit ihren Kindern und Enkelkindern unter uns stehen könnten - ermordet, weil sie Kinder jüdischer Eltern waren und weil es keine Hilfe gab.


Wer hätte die Hilfe damals geben sollen?

Wer hat heute und in Zukunft die Verantwortung,

WENN NICHT  WIR

WENN NICHT  DU ?

 


* Gelesen haben:
Kerstin Focke, Michael Bröcker und Christian Müller
weitere Mitglieder der Gruppe: Tobias Bewer, Stephan Brinkmann, Carola Dartmann, Marius Hillebrandt, Hendrik Lammerding, Stefan Mühlenbäumer, Michael Ostendorf, Sebastian,Leuters, Julian Schulz, Christoph Ueding, Tobias Volkmer; Leitung: Lehrer Guido Linden

 

Im direkten Anschluß folgte die Aufführung des Musikstücks „Wenn nicht Du“ von Friedrich Jaecker (Köln). Das Musikstück ist Bestandteil der künstlerischen Umwandlung des „Kriegerehrenmals“ von 1926 in das „Mahnmal für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“. Es wurde am 22. Oktober 2000 in Billerbeck uraufgeführt und wird seit April 2001 sonntäglich um 11.30 Uhr auf dem roten Plateau vor dem Denkmal bei jeder Witterung und zu jeder Jahreszeit von Solisten und kleinen Ensembles zu Gehör gebracht.