Ansprache von
Winfried Nachtwei

Bundestagsabgeordneter BĂĽndnis 90 / Die GrĂĽnen
Sicherheitspolitischer Sprecher seiner Fraktion

 

Gewalt, Terror, Krieg begegnen uns alltäglich im Fernsehen und in Zeitungen – und bleiben uns zugleich meist fern. Vor 60 Jahren, vor zwei Generationen, heute noch in der Erinnerung unserer Familien gegenwärtig, war ganz Europa überflutet von Krieg und Terror.

Vor 60 Jahren, November 1942, im MĂĽnsterland:

Seit drei Jahren herrschte Krieg, seit 17 Monaten auch gegen die Sowjetunion. In den Zeitungen erscheinen immer mehr Todesanzeigen von Söhnen, Brüdern, Vätern, die an fernen Fronten gefallen sind. Bombenangriffen der Alliierten sind inzwischen allein in Münster 71 Menschen zum Opfer gefallen. Das ganze Land ist übersät mit Lagern, großen und kleinen, für politische Gefangene und Minderheiten, für Kriegsgefangene, Zivilgefangene und Zwangsarbeiter. Viele von ihnen sind schon an Unterernährung und Misshandlung zugrunde gegangen.

In diesen Tagen vor 60 Jahren an der Ostfront:

Soldaten der 16. Panzerdivision, die aus Westfalen stammt, kämpfen seit Ende August 1942 in Stalingrad. Mehr als 4.000 Männer der Division sind schon auf dem Divisionsfriedhof an der Bahnstrecke Frolow-Stalingrad begraben. Die Zahl ihrer toten Gegner ist unbekannt. In wenigen Tagen ist der Kessel von Stalingrad geschlossen. Er ist die Hölle auf Erden. Im Januar sind 20.000 Verwundete unversorgt. Von der westfälischen 16. Panzerdivision kehren nach Jahren der Gefangenschaft schließlich 128 Männer zurück.

Vor 60 Jahren in Riga, der Hauptstadt Lettlands:

Dorthin waren ein Jahr zuvor ehemalige Nachbarn von nebenan verschwunden, Kinder, Alte, ganze Familien. Am 13. Dezember 1941 waren ca. 400 jĂĽdische Menschen


Ansprache von Winfried Nachtwei vor der Kapelle der Friedfertigkeit

aus dem Münsterland zum „Arbeitseinsatz im Osten evakuiert“ worden, darunter 59 aus dem Kreis Coesfeld. Aus Billerbeck mit diesem und anderen Transporten insgesamt 13 Menschen. Unter den älteren Männern waren auch solche, die im Ersten Weltkrieg für ihr Vaterland gekämpft hatten und dafür dekoriert worden waren.

Sie kamen in Riga an am Rangierbahnhof Skirotava. Von dort hatten die Sowjets am 14. Juni 1941 Zehntausende Letten nach Sibirien deportiert. Unter Schlägen wurden die Ankömmlinge in ein mit Stacheldraht abgesperrtes ärmliches Viertel getrieben, Hunderte in einem mehrstöckigen Wohnhaus zusammengepfercht. In den Wohnungen fanden sie ein wildes Durcheinander vor. Bald erfuhren sie den Hintergrund: Um für die angekündigten Deportationszüge „Platz zu schaffen“, waren die allermeisten der vorherigen Bewohner, ca. 27.000 lettische Juden, am 30. November und 8. Dezember in einer planmäßig durchgeführten Aktion erschossen worden.

Die Münsterländer wurden nun Teil des „Reichsjudenghettos“ Riga:

  • mit einer Kölner, Leipziger ... und auch Bielefelder StraĂźe;
  • mit Regeln: Verboten war bei Todesstrafe Kontaktaufnahme durch den Zaun, Besitz von Wertgegenständen, verboten war bei Todesstrafe, Kinder zu gebären;
  • mit Zwangsarbeit im Hafen, bei der Reichsbahn, Wehrmacht, SS, AEG;
  • mit alltäglicher WillkĂĽr, wo die Mutter vor den Augen ihres Kindes erschossen wurde.

Und doch: Als Nachrichten ins Ghetto gelangten von der Bombardierung der Herkunftsorte der Verschleppten, da weinten viele. Es war immer noch ihre Heimat.

Das Ghetto war nicht die einzige Leidensstation. Die meisten Männer waren sofort nach ihrer Ankunft in das KZ Salaspils getrieben worden. Nur wenige von ihnen kehrten im Sommer 1942 ins Ghetto zurĂĽck. Die meisten Angehörigen erkannten sie zunächst nicht wieder. Immer wieder fuhren Lkw mit nicht Arbeitsfähigen, mit Alten und Neuankömmlingen in den „Hochwald“ am Stadtrand von Riga. Insgesamt  wurden dort mehr als 40.000 Menschen erschossen.

Vor 58 Jahren, im November 1944:

Überlebende Häftlinge aus Riga waren inzwischen in das KZ Stutthof bei Danzig evakuiert worden. Unter ihnen drei Frauen aus Billerbeck: Die 17-jährige Hannelore Stein und ihre 25-jährige Schwester Herta sowie die 46-jährige Theresia Kaufmann. Dem noch erhaltenen, sauber geführten „Eingangsbuch“ von Stutthof ist zu entnehmen, wie mörderisch die Bedingungen hier waren: Zwischen den Todestagen von Hannelore Stein (8.11.1944) und Theresia Kaufmann (25.12.1944) starben mehr als 2.200 Häftlinge.

 

Verschollen – vergessen

Für die allermeisten Verschleppten aus dem Münsterland war es ein Ende ohne Ort, ohne Zeit, ohne Namen. Ihr Schicksal war über Jahrzehnte vergessen. Diejenigen, die total vernichtet werden sollten, waren auch aus der kollektiven Erinnerung gelöscht. Die Massengräber im „Hochwald“, dem Wald von Bikernieki, waren verwahrlost, vergessen.

Vor einem Jahr, endlich, wurde die Gedenkstätte Riga-Bikernieki eingeweiht, errichtet vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, unterstützt von den Städten des Riga-Komitees und der Bundesregierung. 5.000 große und kleine Granitsteine geben den namenlos Ermordeten und Verscharrten wieder etwas Gesicht zurück. In einen Steinquader wurden Listen der in Riga Ermordeten niedergelegt, darauf auch Josef Nathan aus Billerbeck. Es war wie eine nachgeholte Beerdigung. Jugendliche aus Lettland, Deutschland, Österreich, Tschechien und anderen Ländern pflegen nun alljährlich diese Gräber.

Gemeinsame Erinnerung – gemeinsamer Frieden

Das Erinnerung an das, was vor 60 Jahren geschah, lässt uns fühlen, wie wertvoll Frieden, wie wertvoll Freiheit sind, wie wichtig es ist, sie zu schützen und zu stärken. Die Gegenwart auf dem Balkan und anderswo zeigt zugleich, dass Erinnerung an Krieg und Terror nicht automatisch Versöhnung und Frieden fördert. Oft wirkt sie eher vergiftend. Notwendig ist gemeinsame Erinnerung über die Grenzen der eigenen Gruppe, der eigenen Nationalität hinaus. Gemeinsame Erinnerung an die Menschen, die dem Krieg, dem Terror, der Verfolgung zum Opfer fielen.

Ich beglĂĽckwĂĽnsche deshalb die BĂĽrgerinnen und BĂĽrger Billerbecks fĂĽr die beispielhafte Gestaltung dieses Gedenkortes.

Zwischen den Kriegsgegnern von vor 60 Jahren ist inzwischen so viel an gemeinsamer Sicherheit und gemeinsamem Frieden entstanden, wie es kaum jemand früher geglaubt hätte. Die gegenwärtige Welt, die Nachbarschaft Europas ist davon noch weit entfernt. Die Erinnerung an die Toten von Krieg und Gewaltherrschaft ist uns Mahnung zum Frieden, gerade in diesen Wochen. Wir leben in einer Welt. Wir haben nur eine Welt!

 

[Zu den Riga-Deportationen und zur Gedenkstätte Bikernieki
 s. die Artikel von Winfried Nachtwei auf seiner homepage:
www.nachtwei.de.]