Artikel im Billerbecker Anzeiger am18.11.2002

Namen geben den Opfern
ihre Identität zurück

Volkstrauertag mit übergabe der Gedenktafel


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Wolfgang Suwelack, Vorsitzender des Fördervereins Mahnmal (re.), hier mit (v. li.) Matthias M. Ester, Winfried Nachtwei und Bürgermeister Harald Koch, übergab die Gedenktafel.

pip- Billerbeck. Auf der roten Plattform vor dem Mahnmal stehen drei Schüler der Realschule und erzählen aus dem kurzen Leben von Rolf und Eva Eichenwald, die im Winter 1941/42 im Ghetto von Riga ermordet wurden. Mitgebracht haben die Schüler zwei große Bilder der Geschwister und ihrer Mutter Ruth, die der Billerbecker Künstler Bernhard Scholz gemalt hat. Die Realschüler beteiligen sich an dem Projekt ,,Spuren finden“. Tatsächlich haben sie in Billerbeck Spuren der jüdischen Familie gefunden. Dennoch scheint es, als habe es sie nie gegeben, sagt Michael Bröcker. Dass dem nicht so ist, wird seit gestern am Mahnmal auch optisch deutlich. Mit der Enthüllung einer Glasplatte, auf der nicht nur die Namen der gefallenen Soldaten beider Weltkriege stehen, sondern auch jedes Billerbecker Opfer des Nazi-Terrors nanamentlich erwähnt wird.

Jeder einzelne der zahlrei­chen Toten, jüdische Mitbürger, Zwangsarbeiter, ,,Euthanasie“-Opfer, Soldaten und Zivilisten, bekommt auf diese Weise einen Teil seiner Identität, ein Stück seines individuellen Schicksals zurück. Am Ende der Liste wird darauf hingewiesen, dass die Gedenktafel als Beitrag zur Umgestaltung des ,,Kriegerehrenmals“ in die ,,Kapelle der Friedfertigkeit“ zu verstehen sei.


Wolfgang Suwelack, Vorsitzender des Fördervereins Mahnmal, erklärt, dass er bedaure, ,,dass der Eindruck entstanden ist, die Umwidmung sei bereits vollzogen.“ Doch laut Suwelack ,,kann man an einem Kriegerehrenmal nicht der ermordeten Juden gedenken.“ Die Erinnerung an alle Opfer sei vielmehr in einer Kapelle der Friedfertigkeit möglich. Deshalb bittet er die anwesenden Mitglieder des Stadtrates, die Umwidmung möglichst bald zu vollziehen.



Schüler einer AG der Realschule berichteten in einfühlsamen, nachdenklich stimmenden Texten vom Schicksal der Geschwister Rolf und Eva Eichenwald.

Bei der Gedenkfeier erinnert der Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei (Bündnis 90/Die Grünen) an die deportierten Juden aus dem Münsterland. Unter ihnen auch die Billerbeckerinnen Hannelore Stein und Theresia Kaufmann, denen in Stutthof das Leben genommen wurde. ,,Es ist ein Ende ohne Ort, Zeit und Namen“, so der Abgeordnete, sie seien aus dem kollektiven Gedächtnis lange Zeit ausgelöscht gewesen. Umso mehr begrüßt Nachtwei das Engagement des Fördervereins Mahnmal, der die Gedenktafel realisierte. Nachtwei spricht von einem ,,beispielhaften Mahnmal“, das dem Gedenken an alle Opfer einen öffentlichen Raum gebe. Es dokumentiert gleichermaßen, dass das Gedenken weitergeht, dass der Volkstrauertag nicht in Routine erstarrt ist und angesichts fortdauernder Gewalt und Kriege nichts an Aktualität eingebüßt hat.

In diesem Sinne fragen die Schüler am Ende ihrer einfühlsamen, nachdenklich stimmenden Spurensuche, wer heute und in Zukunft die Verantwortung zum Gedenken habe, ,,wenn nicht wir, wenn nicht du?“

 

Text und Fotos: Philipp Perick